Mittwoch, Oktober 18, 2006

Schonzeit - Genießt den Herbst...

Schwer zu sagen, wann genau der Winter da war. Der Rückgang vollzog sich allmählich, ganz so, wie ein Mensch altert, Tag für Tag in kaum merklichen Schritten, bis die Jahreszeit eine Realität war, an der sich nicht rütteln ließ. Es begann mit sinkenden Abendtemperaturen, dann folgten Tage ununterbrochenen Regnens, jäh wechselnde Böen atlantischen Windes, Feuchte, das Fallen der Blätter und die Umstellung der Uhren – aber immer noch gab es gelegentlich eine Verschnaufpause, Vormittage an denen man ohne Mantel aus dem Haus gehen konnte und der Himmel wolkenlos strahlte. Doch sie waren wie trügerische Anzeichen der Genesung bei einem Patienten, dem der Tod das Urteil verkündet hatte.
Im Dezember hatte sich die neue Jahreszeit durchgesetzt, und über der Stadt lag fast täglich ein bedrohlicher stahlgrauer Himmel wie auf einem Gemälde von Mantegma oder Veronese, die perfekte Umrahmung für die Kreuzigung Christi oder für einen im Bett verbrachten Tag. Der Park um die Ecke wurde zur Ödnis aus Schlamm und Wasser, auf die nächtens der regengrau gestreifte orange Schein der Straßenlaternen fiel. Als ich ihn eines Abends während eines Gusses durchquerte, musste ich daran denken, wie ich mich in der Hitze des vergangenen Sommers auf dem Boden ausgestreckt und mir die Schuhe von den Füßen gestreift hatte und mit ihnen über das Gras gestrichen war. Bei diesem unmittelbaren Kontakt mit der Erde hatte sich ein Gefühl eingestellt, als werde in mir alles weiter und als dehnte ich mich aus, während der Sommer die normalen Grenzen zwischen innen und außen niederriss, und ich fühlte mich in der Welt so zu Hause wie in meinen eigenen vier Wänden. […]

(Alain de Botton: Kunst des Reisens)